Landsberger Tagblatt vom 14.01.2019
10:57 Uhr
landsberger bühne: Schauspieler überzeugen, Bühnenumbau irritiert

Mit einem im Internet hochgeladenen Video ist Jack in Schwierigkeiten gekommen. Seine Eltern David (Thomas Bauer) und Diana (Diedke Moser) überlegen, wie sie ihren Sohn vor weiteren Konsequenzen bewahren können.
Bild: Thorsten Jordan
Mit ihrem Winterstück „4 Minuten 12 Sekunden“ beweist das Landsberger Ensemble sein Gespür für gute Stoffe. Die Leistung der Darsteller überzeugt.
Von Minka Ruile
Von wegen alles nur Theater! „4 Minuten 12 Sekunden“, das Winterstück der landsberger bühne, stand kurz vor der Premiere, da flog Johannes S. alias „Orbit“ auf. Der 20-jährige Schüler hatte über Monate hinweg Politiker und Prominente ausgespäht und pikante Details aus deren Privatleben anonym auf Twitter veröffentlicht. Hat der junge Mann nur „Mist gebaut“ und genügt es, mit ihm ein ernstes Wort zu reden? Oder ist die ganze Angelegenheit nicht doch eher ein Fall für Polizei und Justiz?
Was bei genauem Hinsehen zu erkennen ist
Vor diese Fragen stellt der Dramatiker James Fritz in seinem 2014 in London uraufgeführten Vier-Personen-Stück auch die Menschen in der Umgebung des heimlichen Protagonisten Jack, als im Internet ein intimes Video von ihm und seiner Exfreundin Cara auftaucht. Die vier Minuten und zwölf Sekunden bringen nicht nur Privates ans Licht, sondern vielmehr lassen die Bilder bei genauem Hinsehen Caras Gegenwehr und Jacks Hand auf ihrem Mund erkennen …
Im Konflikt zwischen Schuldeingeständnis und Schuldzuweisung, hin und her gerissen zwischen Wahrheitssuche und -verdrängung und ihrem Bedürfnis, den Sohn zwar zu schützen, aber auch Cara gerecht zu werden, stürzt Jacks Mutter Diana in ein emotionales Chaos, und es gerät auch ihre Beziehung zu Jacks Vater David aus dem Gleichgewicht. Es entwickelt sich ein psychologisch geführter Ehekrieg, ausgetragen vor allem auf dem Sofa im heimischen Wohnzimmer. Rasch wandelt sich die Kuschel- in eine Kampfzone und Davids Begehren in unverhohlene Drohgebärde: Er werde es nicht zulassen, dass jemand die vielversprechenden Karriereaussichten seines Sohnes zerstöre. Im Zurückweichen vor ihrem Mann kippt Diana einmal fast rücklings von der Sofalehne. Am Ende bleibt von ihrer Beziehung nicht mehr als ein Scherbenhaufen. So sehr sind Diana und David damit beschäftigt, die heraufziehende Katastrophe abzuwenden und fallen dabei die Masken, dass es eines Auftritts ihres Sprösslings nicht mehr bedarf – der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm.
Die verbotene Frucht in neuer Gestalt
Präsent ist dagegen auch in der modernen Welt die „verbotene Frucht“ – wenn auch in gewandelter Form: Längst ist es nicht mehr der Apfel, durch den wir in Versuchung geraten. Verführen lassen wir uns von der scheinbaren Grenzen- und Regellosigkeit sowie der Anonymität des Internets; ironisch weist das von einer Schlange gehütete „Apple-Logo“ auf dem Panel des Bühnenbilds (Martin Paulus) auf den Wertewandel globalisierter Mediengesellschaften hin.
Cara und auch Jacks Schulfreund Nick kommen zu Wort – und beschämen in ihrer Verletzlichkeit Diana, die versucht, „Deals“ mit ihnen auszuhandeln. Doch was gäbe es für sie dabei zu gewinnen? Cara fühlt sich durch das Video „gebrandmarkt“. Und der zurückhaltende, sensible Nick, der das kratzbürstige Mädchen schon liebte, bevor sein „Freund“ Jack ihm dazwischenfunkte, ist einfach nur traurig und nicht empfänglich für die durchschaubaren Argumente und schäbigen Angebote Dianas.
Mit steril-weißen Schutzanzügen
Mit ihren glaubhaft gezeichneten Figuren gelang den beiden jungen Schauspielern Ann Machacek (Cara) und Jonas Echterbruch (Nick) ein überzeugender Auftritt, der vom Premierenpublikum mit herzlichem Applaus gewürdigt wurde. Dies gilt ganz besonders auch für Thomas Bauers und Diedke Mosers tragende Rollen als David und Diana, von der man sich trotz aller gut nachvollziehbaren Erregung vielleicht das eine oder andere Innehalten und ein paar leise Zwischentöne mehr gewünscht hätte.
Etwas befremdlich wirkte die vierköpfige Kulissencrew in ihren steril-weißen Schutzanzügen, die mit langen Umbauten dem Stück gelegentlich den Schwung nahm. Dies vermochten auch die hörenswerten musikalischen Einschübe von die Thomas Jankovic nicht ganz wettzumachen. Vielleicht hätte man hier einen fliegenden Wechsel der Schauspieler zwischen den gleichzeitig auf der Bühne stationierten Handlungsorten Wohnzimmer, Caras Zimmer und Kneipe in Erwägung ziehen können. Sehenswert, und wie das eingangs geschilderte Beispiel zeigt, unmittelbar am Puls der Zeit ist „4 Minuten 12 Sekunden“, das aktuelle Stück der landsberger bühne unter der Regie von Sabine Kittel dennoch unbedingt.
Tatort ohne Täter
Die landsberger bühne mit James Fritz‘ Drama „4Min 12Sek“
KREISBOTE Landsberg vom 14.01.2019

Diedke Moser als Diana und Thomas Bauer als David in „4Min 12Sek“
© Greiner
Landsberg – Die Bühne ist fast leer. Schwarzlicht lässt Weißes bläulich schimmern. Die agierenden Schauspieler nutzen die vordere linke Ecke. Es ist eng. Beklemmend. Und das soll es auch sein. Denn James Fritz‘ Theaterstück „4Min 12Sek“ seziert das menschliche Miteinander, wenn Unsicherheit, Verrat und Lügen das Vertrauen massiv unterhöhlen. Die landsberger bühne hat sich für ihre Jahresaufführung an den schwierigen Text herangetraut. Mit einem großteils positivem Ergebnis.
„4Min 12Sek“ hat zwei Themenschwerpunkte: sexuelle Gewalt und den unverantwortlichen Gebrauch sozialer Medien. Da ist Jack, 17 Jahre alt. Seine Eltern vergöttern ihn, er hat eine Freundin, ist Klassenbester. Nach dem Abitur winkt das Jurastudium. Eine heile Welt. Doch plötzlich wird der Klassenprimus verprügelt, vom Bruder seiner Freundin Cara. Denn im Internet kursiert ein Video, das ihn und Cara beim Sex zeigt. Sie wehrt sich, er hält ihr den Mund zu – eine Vergewaltigung. 4 Minuten und 12 Sekunden lang. Mit inzwischen über einer Million Klicks. Nur ein Sex-Video von vielen? Denn „das macht doch heute jeder“, ist Jacks Vater überzeugt. Wer das Video tatsächlich eingestellt hat, weiß bisher niemand.
Stehen am Anfang beide Eltern hinter Jack, muss sich seine Mutter Diana im Lauf des Stücks der Tatsache stellen, dass das Video kein „dummer Schuljungenstreich“ ist. Dass ihr Sonnenschein Jack nicht nur „gut“ ist. Dass auch ihr Mann David das Thema der sexuellen Gewalt erschreckend verharmlost. Und dass er sie belügt. Letztlich macht sich eine erschreckende Selbsterkenntnis in Diane breit: Um ihren Sohn zu schützen, verschweigt auch sie sein Verbrechen.
Fritz verknüpft das Thema sexuelle Gewalt und Mobbing in sozialen Netzwerken in einer Mischung aus Drama, Psychogramm und Satire äußerst intelligent. Denn in „4Min 12Sek“ geht es am Ende gar nicht mehr um die Tat an sich – die Vergewaltigung. Oder wie David es ausdrückt: den „etwas ruppigen“ Geschlechtsverkehr. Sondern nur noch um die Frage: Wer hat das Video eingestellt? Die Frage, ob Jack Cara vergewaltigt hat, wird zur Nebensache. Weshalb im gesamten Stück Jack selbst nicht auftritt und auch nie das Wort ‚Vergewaltigung‘ fällt.
Als Laientheater ein Vier-Personen-Stück auf die Bühne zu bringen, ist eine Herausforderung. Vor allem, wenn es keine Komödie ist. Die landsberger bühne meistert sie zum großen Teil gut. Da Cara und Jacks bester Freud Nick (Ann Machacek und Jonas Echterbruch) nur wenige Minuten auf der Bühne haben – Minuten, die Echterbruch äußerst überzeugend nutzt – stemmen Diedke Moser als Diana und Thomas Bauer als David den Hauptpart. Sind deren Dialoge am Anfang noch perfekt, wirken wie reale, lebendige Gespräche, verlieren sie im Lauf des Stücks an Kraft. Das mag daran liegen, dass Regisseurin Sabine Kittel Diana keine Entwicklung zuschreibt. Moser startet emotional auf 200. Und bleibt auf dieser Ebene. Das ist am Anfang überzeugend, schleift sich aber auf Dauer ab.
Auch die Brüche in Davids Verhalten wirken in Bauers Darstellung nicht immer überzeugend. Ist er wirklich stolz auf die ‚sexuelle Leistung‘ seines Sohns? Dass hier auch Fritz‘ Vorlage wohl nicht kohärent ist, sei unbestritten. Insgesamt ist die Leistung der beiden Schauspieler dennoch zu loben: Sie bleiben konsequent in ihren Rollen. Und stemmen die nicht geringe Textmenge souverän.
Die Aufführung der landsberger bühne dauert zwei Stunden. Bei der Uraufführung in London 2014 waren es eineinhalb Stunden, die deutsche Erstaufführung in Memmingen 2017 reduzierte nochmals um zehn Minuten. Eine entsprechende Kürzung, Komprimierung der Szenen und Dialoge hätte dem Spiel der landsberger bühne gut getan. Auch der mehrmalige Bühnenumbau trägt zur Dauer bei (Bühnenbild: Martin Paulus). So assoziiert das Schwarzlicht passend die Atmosphäre eines Computerbildschirms. Dass die Kulissencrew in leuchtendweißen Overalls à la Tatortreiniger umbaut, verstärkt den Aspekt ‚Tatort‘, ist jedoch zu viel des Guten. Auch die farblichen Akzente durch Blumen und Teddybären lenken ab. Reduktion wie schon im Text wäre auch beim Bühnenbild möglich gewesen: Weniger Requisiten, vielleicht eine Simultanbühne würden die Konzentration auf das Wesentliche, den Umgang der Protagonisten miteinander und deren emotionale Entwicklung, besser herausstellen.
Das Publikum im vollen Stadttheater belohnte die Schauspieler mit langanhaltendem Applaus und ‚Bravo‘-Rufen. Weitere Aufführungen von Donnerstag, 17. Januar, bis Sonntag, 20. Januar, am Donnerstag, 24. Januar, und Freitag, 25. Januar. Die Aufführungen starten jeweils um 20 Uhr, sonntags um 18 Uhr.
Susanne Greiner